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Wer mich wirklich lieben lehrt
Ich schlendere durch die Straßen einer verschlafenen sächsischen Kleinstadt, bleibe hier und da stehen, mache Fotos. Am Mühlengraben, der an diesem Freitagabend sehr einsam ist und mit seinem Schatten nach dem heißen Sommertag Kühle spendet, kommt mir eine Familie entgegen. Ich höre sie bevor ich sie sehen kann. In breitem beleidigendem Sächsisch überhäuft eine Mutter ihre drei Kinder mit ihrem Ärger. Die junge Frau scheint betrunken zu sein. Ihr wabbeliger Leib mit Brüsten hängt auf dünnen Beinen, ihre nackten Arme sind tätowiert. Sie trägt schwarze Leggins, ein schmuckloses schwarzes Schlabberhemd, lange offene schwarze Haare. Ein dünner kleiner Mann geht still mit den jüngsten Kindern vor ihr, während sie ihrer pummeligen, noch nicht ganz schulreifen, Tochter die Strafe für deren verschmiertes Gesicht entgegen dröhnt. „Du bleedes Ding, fass mich ja ni an!“ lärmt sie, als wöllte sie die ganze Welt um sich herum auf Distanz halten. Dann sieht sie mich fotografieren und schleudert ihrem Mann ein „Wos fodografierd die denn?“ in den Rücken, um die Frage gleich selbst zu beantworten und ein triumphierendes „Das kann isch och!“ in meine Richtung zu posaunen. Ich fühle mich geradezu körperlich besudelt. Ich habe etwas abbekommen, wovon ich wirklich nichts, aber auch gar nichts haben will. Die Frau wankt mit ihrer Familie an mir vorbei und ich bin erleichtert, dass sie nichts mehr zu mir sagt, sondern laut kommentierend ihr Handy zückt und später Fotos macht. In mir ist Aufruhr. Wieder bin ich ganz sicher, dass ich Sächsisch furchtbar finde und nicht in meinem Alltag haben möchte. Dann erinnere ich mich an all die Künstlerinnen und Künstler, die Klugen und Weisen, die ebenfalls diesen Dialekt sprechen. Und mir wird der Unterschied klar, den ich gedanklich machen muss: Sächsisch gepaart mit Dummheit möchte ich nicht in meinem Alltag haben. Und wie ich das denke, fühle ich einerseits Demut, weil ich nicht mehr ganz so streng mit meiner Muttersprache umgehe während ich meine hochdeutsche Vatersprache bevorzuge. Ich fühle aber auch die Arroganz, die mich nach dem Gedanken an die Dummheit der Anderen in meinem Inneren vergiftet. Auch die will ich nicht in meinem Alltag haben! Noch macht sie sich aber heftig verachtend und angreifend breit, formt einen Absolutheitsspruch nach dem anderen – alle nicht haltbar, dennoch süßes Eigenlob spendend: „Ich bin die Richtige.“ Diese Menschen erziehen ihre Kinder falsch, sie trinken zu viel, sie sind grob, gemein, primitiv – Abschaum. Einfach und widerlich. Mich dem Schloss der Kleinstadt nähernd komme ich mir aristokratisch vor, fein und zart, den kleinen Finger abgespreizt an der Tasse, poetisch reich. Doch in der Herzensangelegenheit, das spüre ich nun deutlich, bin ich Lernende. Barmherzig, mitfühlend und gleichmütig möchte ich sein. So öffne ich mich noch einmal für das eben am Mühlbach Erlebte und fühle nicht nur mit den so beladenen Kindern mit, sondern auch mit den Eltern, die einfach nicht anders können als die zu sein, die sie gerade sind. Meine bis eben noch so zuverlässig vernichtende Urteilskraft erschlafft. Ich irre mich – nichts weiß ich außer dem.
Der Lärm in mir verhallt, ich finde wieder Schönes. Fange Sonnenstrahlen ein, die mich und Andere im Winter nähren können. Entdecke dies und das, gerate in die Kirche gar. Ein Orgelspiel hat mich berührt und sitzend in der Bank am Eingang höre ich den Pfarrer reden. Vom Wasser, das reinigt und mit sich reiß; das abspült, was mir nicht mehr hilft. Ich höre zu und bete schließlich mit all den Anderen das „Vater unser“, Frieden findend in der Fremde.
Dann gehe ich zurück zu meinem Parkplatz. Den Marktplatz mit den vielen bunten Häusern und dem Brunnen schaue ich ein letztes Mal. Und ziehe dann die Straße hinunter, von der so viele schmale Gässchen mit feinen alten Handwerksnamen abgehen. In der Senke erblicke ich die Familie, die ich glücklich passiert zu haben wähnte. Ich suche nach einem Ausweg, einem Umweg, ich möchte trotz aller milderen Einsichten nicht erneut besudelt werden als Eine, die ganz offensichtlich nicht in diese Gegend mit den vielen leer stehenden, runtergekommenen Ladenräumen passt. Fast gerate ich in Not, weil es keinen anderen Weg als den an der lärmenden Betrunkenen vorbei gibt. Und diese körperlich schmerzhafte Bedrängnis lässt mich um Hilfe bitten, um Schutz, um eine Hülle fürs Vorübergehen. Prompt kommt sie. Und ich kann nun fühlen, dass diese Frau selbst so viel Leid erlitten hat, dass ihr Poltern ein ums andere Mal um Hilfe schreit „Liebe mich! Ich habe es verdient.“ Mein Herz wird weich, die Angst vor der Begegnung ist verflogen. Die Liebe wärmt und macht es mutig. So gehe ich vorbei. Und nichts geschieht. Erst als ich die Straße weiter bergauf gegangen bin, wird mir bewusst: Sie haben miteinander leise und sanft gesprochen, als ich vorbei ging. Kein Lärm, kein Trunken-Sein, fast war es still. Mein Blick hatte im Vorübergehen eine Person erfasst, die vorher am Mühlengraben noch nicht dabei war. Sie war kleiner als die Kindesmutter, ebenfalls in schwarzes Jersey gekleidet, tätowiert – und älter. Sie schien die Mutter der jungen Frau zu sein, und unsere Blicke trafen sich – kurz und interessiert.
Ich war davon gekommen, beschenkt worden statt beschmutzt. Und auch ich hatte geschenkt und nicht beschmutzt. Ich war weiter gekommen. Und war dankbar, Jesu Worte nun so lebensnah erfahren zu haben, wenn auch mit Anlaufschwierigkeiten. Es ist leicht, die zu lieben, die einem vertraut und sympathisch sind. Die zu lieben, die in mir Ekel und Schmerz, Ärger und Wut auslösen, das ist mein Weg. Und diese Menschen sind heut für mich da gewesen! Sie haben mir geholfen, diesen Weg zu beschreiten, mein Herz wieder um den Bruchteil eines Millimeters zu weiten. So fühle ich überraschend Dankbarkeit für ihr Dasein, für ihr So-Sein gar. Meine Gedanken für sie bleiben trotz der erlebten Grobheit liebevoll. Ich weiß, dass es in jeder Familie immer mal wieder ein leuchtendes Wesen gibt, dass kräftig genug ist, diesen dunklen Weg des Schmerzes in Liebe zu verwandeln.
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