Startseite » Herz-Worte » Blog » Zeit für Vergesslichkeit

Zeit für Vergesslichkeit

Als Lotte am zweiten Weihnachtsfeiertag Oma Fridas Zimmer betrat, war das Bett leer! War Oma Frida gestorben?

Lotte erschrak. Sie schaute im Bad nach. Finsternis!

 

Lotte besuchte Oma Frida seit zwanzig Jahren. Sie waren Freundinnen geworden und teilten ihre Liebe für die einfachen Dinge des Lebens, die sich eher im Innehalten und Staunen zeigten. Für Lotte war das immer ein Ausflug aus ihrem ansonsten lauten und turbulenten Leben und für die in ihrer Welt immer mehr nach innen wandernde Oma Frida ein zartes Gestubst- und Überraschtwerden von Draußen. Die Demenz und ihre 94 Lebensjahre füllten Oma Fridas Kopf und leerten ihn zugleich. Schließlich musste sie ins Heim. Meist saß die immer dünner werdende kleine Frau aus Ostpreußen zusammengesunken in ihrem Sessel. Seit Wochen fand Lotte sie bei ihren Besuchen fast nur noch im Bett vor. Nur heute war das Bett leer!

Lotte ging auf den Flur, um im Schwesternzimmer zu fragen, wo Oma Frida sei. Sie ging erneut vorbei an den stumpf blickenden alten Damen im Gemeinschaftsraum, die eingehüllt in das laute Stimmengewirr eines Märchenfilms an der Tischdecke nestelten und hin und wieder an ihrem Stollen nagten.

Jetzt erst erkannte Lotte, dass eine der Damen im Rollstuhl Oma Frida war. Sehr erleichtert ging sie zu ihr, beugte sich zu ihr herab und begrüßte sie mit einer vorsichtigen Umarmung.

„Es tut mir leid, aber ich weeß jetzt nich, wer Sie sind.“ entschuldigte sich die Hochbetagte. Steif nahm sie ihren Oberkörper zurück, vergrößerte den Abstand zwischen sich und ihrer jungen Besucherin und blickte forschend und etwas unglücklich in das ihr fremde Gesicht. Lotte rief ihren Zauberspruch, der ihr in den letzten Jahren so oft Zutritt verschafft hatte, „Ich bin die Lotte!“ , und es gelang ihr auch diesmal, damit die Nebelmauern aus Abfinden und Aushalten zu durchdringen. Prompt wurde es auf Oma Fridas artig-höflichem Gesicht hell und sie drückte Lotte wieder und wieder mit warm werdenden Wangen an sich. Sie freute sich lachend „Das ist aber schön, dass du mich besuchen kommst!“ und wollte sofort die Fernsehrunde im Gemeinschaftsraum verlassen. Lotte schob Oma Frida in ihr Zimmer. Sie zog den Mantel aus und nach der obligatorischen Frage-Antwort-Runde „Geht´s Euch gut? – Ja, alle gesund!“ packte Lotte nach und nach all die kleinen Überraschungen aus, die sie seit Tagen mit viel Liebe für die demente Freundin ausgesucht hatte.

Zuerst den bunten Räuchermann im Weihnachtskostüm. In seinem Sack, den er auf dem Rücken trug, steckten Geschenke und Oma Frida konnte raten, was in diesen bunt lackierten Holzpäckchen sein könnte. In der einen Hand hielt er einen kleinen geschmückten Weihnachtsbaum, mit der anderen Hand schwang er eine Glocke. Am Arm baumelten, als hätten sie kein Gewicht, noch mehr Geschenkpakete Er gehörte zu der Sorte „Erzgebirgskunst“, die Lotte als zu glatt gedrechselt und seelenlos empfand. Vielleicht kam er ja auch aus China oder Taiwan. Egal: Lotte wusste, dass er Oma Frida auf jeden Fall Freude machen würde. Es gab an ihm ganz viel zu „begucken“ und zu „befingern“ und er bot alle Farben und Ausschmückungen, die Oma Frida vielleicht mit Weihnachten in Verbindung bringen konnte.

Lotte packte auch noch eine Kiste mit Räucherkerzchen aus. Oma Frida saß ganz aufrecht und guckte erwartungsvoll, als Lotte ihr nacheinander und mit viel Zeit zum Riechen einen roten, einen grünen und dann einen schwarzen Räucherkegel unter die Nase hielt. „Wieder anders!“ bestätigte sie andächtig und gespannt zugleich. Es war ihr anzusehen, dass sie keine Ahnung hatte, was Lotte ihr da zeigte. Lotte zündete den kleinen grünen Kegel an und stellte ihn in den Räuchermann. Nun quoll aus seinem Mundloch ein dichter Strom Fichtennadelduft. Oma Frida freute sich. Lotte auch. Im Zimmer roch es nun endlich nicht mehr nach scharfem Urin oder Desinfektionsmittel, sondern weihnachtlich!

Als sie dem Rauchspiel ausgiebig zugeschaut hatten, holte Lotte die nächste Überraschung aus ihrer Tasche: Kleine Teller mit Mohnstollen. Zunächst noch – und nur des Transportes wegen – in durchsichtige Folie verpackt. Oma Frida liebte Mohnstollen über alles, aber sie wehrte gleich ab. Sie hätte ja gerade mit den anderen Kaffee getrunken. Wieder einmal war Lotte verblüfft, dass sie nie sicher sein konnte, was Oma Frida noch erinnern konnte und was nicht. Und als hätte sie gerade vergessen, was sie eben gesagt hatte, aß Oma Frida ein wenig später dann doch mit viel Freude ein kleines Stück echten „Dresdner Mohnstriezel“ . Im Schein der kleinen Kerze, die Lotte noch aufgestellt hatte. Warmes natürliches Licht berührte ihre Seelen!

Auf dem Tisch stand ein „Bunter Teller vom Heim“ mit Schokoladen-Lebkuchenherzen, Spekulatius, Nüssen, Marzipankartoffeln, Mandarinen und Datteln. Oma Frida sagte, Lotte sollte zulangen. Und Lotte tat das auch! Jetzt fehlte nur noch so ein „feines Tässchen Kaffee“, wie sie es jahrelang in Oma Fridas Zuhause gehabt hatten! Wie schön waren diese Kaffee-Rituale gewesen! Der Ablauf war immer gleich, beide konnten, aus ihren verschiedenen Welten kommend, im gemeinsamen Tun zueinander finden. Hier fehlten diese einfachen Verrichtungen, die Brücken bauten und sicher machten. Lotte hätte beim Personal noch um einen Kaffee bitten können, aber sie mochte jetzt auch nicht hinaus auf den Flur. Ihre Zweisamkeit wäre dann gestört und Oma Frida wäre nur beunruhigt.

Während Lotte kaute, packte Oma Frida das kleine Geschenk aus, das vor ihr lag. Sie freute sich über den kleinen Kalender mit Bibelsprüchen. Lotte hatte den mit der größten Schrift ausgesucht. Die konnte Oma Frida noch erkennen und las den Kalender zu Lottes Überraschung bestimmt drei Mal durch. Einige Sprüche verstand sie gleich und sie nickte bestärkt. Fast atmete sie diese Worte ein und Lotte konnte die Ruhe spüren, die sie Oma Frida gaben. Sie brauchte lange und die Zeit hüllte sich wie eine warme Decke um die beiden Frauen. Irgendwann war Oma Frida fertig und legte den Kalender auf das Geschenkpapier neben den Räuchermann. Lotte hatte inzwischen eine neue Räucherkerze hineingestellt und Oma Frida bewunderte den kräftigen Rauch, der aus seinem Mund quoll.

Sie hielten einander bei den Händen. Oma Fridas Haut war kalt, wie so oft seit sie im Heim war. Diesmal sagte Oma Frida als Erste „Früher hattest du die kalten und ich die warmen!“ und beide lachten.

Aus ihrer Tasche holte Lotte ein handgroßes rotes Plastikherz. Sie knickte es und sofort wurde die feste Masse in seinem Inneren weich und warm. Lotte legte das inzwischen fast heiße Herz in Oma Fridas kalte Hände. Die alte Frau staunte „Was es alles gibt!“ Nach einer Weile gab sie es Lotte zurück. Lotte sollte es mitnehmen. Schließlich müsse sie ja wieder nach draußen. Hier drinnen brauche Oma Frida das Herz nicht. Lotte drückte es Oma Frida erneut in die Hand – „Nur bis ich gehe.“, sagte sie. Oma Frida legte es mit kindlicher Neugier an ihre Wange. „Was es alles gibt!“ wiederholte sie kopfschüttelnd. Die Wärme freute sie.

Aber Lotte lag richtig mit ihrer Annahme: Oma Frida wollte nichts mehr haben. Lotte sollte alles wieder mitnehmen. So hatte sie es auch gedacht: Sie wollte Oma Frida mit den vielen Kleinigkeiten einfach überraschen. Nur der Kalender mit den „frommen Sprüchen“, die Oma Frida so liebte, den wollte sie hierlassen.

Die Krönung ihrer Mitbringsel holte Lotte zum Schluss heraus: Ein kleines Kaleidoskop, das sie auf einem historischen Weihnachtsmarkt gekauft hatte. Entzückende kleine Blumen und Sternenornamente entstanden durch die zahlreichen kleinen Spiegel im Inneren des Rohres, wenn man damit die Umgebung betrachtete. Oma Frida probierte es und flüsterte ein ums andere Mal „Oooch! Was für ein schönes Weihnachtsbild!“.

Als sie genug geguckt und in solch erfüllender Andacht gestaunt hatte, die nur Kindern und Alten so selbstverständlich zugänglich zu sein schien, legte sie das Kaleidoskop auf den Tisch und entdeckte das rote Herz. „Was kann das denn sein?“ fragte sie Lotte, die durchaus mit Oma Fridas Vergesslichkeit gerechnet hatte und sich schon auf das dadurch mögliche Immer-Wieder-Staunen-Können gefreut hatte. Oma Frida nahm das rote Plastikherz in ihre Hände. Wieder wunderte sie sich über die Wärme. Wieder legte sie es irgendwann auf den Tisch, wo sie dann das Kaleidoskop entdeckte und erneut überrascht fragte „Was kann das denn sein?“. Wieder schaute sie durch das Rohr und freute sich an den Mustern. Alles war für Oma Frida immer wieder neu und beschäftigte und entzückte sie.

Erzählen mochte oder konnte Oma Frida heute nicht. Lotte spürte wie die alte Frau nach all dem Auspacken und Staunen unruhig wurde. Sie fragte wieder und wieder, ob sie Lotte etwas geben könnte oder ihr etwas schulde. Es schien Oma Frida ein elementares Bedürfnis zu sein, andere Menschen einladen, bewirten und beschenken zu können. Und hier im Heim hatte sie diese Möglichkeit nicht mehr. Das trieb ihre Gedanken in einem Karussellritt und nahm ihr das Glück. Dann gab es keine Ruhe zum Erzählen. Dann schien irgendetwas zu fehlen, was zum Erzählen immer dazu gehört hatte. Und die Besucherin, die dennoch bleiben würde, würde zur Belastung, weil es auf Fragen keine Antworten gäbe. Lotte entschied sich in diesem Moment zum Gehen.

 

„Nächstes Jahr komme ich wieder!“ rief Lotte in Oma Fridas Ohr. „Was?! So lange?!“ protestierte sie. „Das Jahr ist in vier Tagen zu Ende!“ rief Lotte und Oma Frida lachte. „Jetzt ist schon wieder ein Jahr rum!“ sagte sie mit nachdenklichem Gesicht und Lotte staunte erneut, dass Oma Frida trotz aller Vergesslichkeit immer wieder so klar war. „Wer weiß, ob ich nächstes Jahr noch lebe?“ sagte Oma Frida und schürzte ihre Lippen zu einem Schmollmund. „Wenn nicht“, lachte Lotte, „sehen wir uns im Himmel wieder!“ „Das wird schön!“ strahlte Oma Frida mit einem breiten, wirklich glücklich wirkenden Lächeln, das Lotte mitnahm in eine gemeinsame Ewigkeit.

Als Lotte aus dem Zimmer ging, drehte sie sich noch einmal kurz um: Eine alte Frau saß im Rollstuhl vor ihrem Weihnachtstisch. Mit stiller Freude besah sie sich den Weihnachtsstrauß mit den schönen Strohsternen und auch den inzwischen ausgekühlten Räuchermann mit den vielen bunten Päckchen.

Es war tatsächlich das letzte Weihnachten, das sie miteinander feierten.

Veröffentlicht von Eva Luna am